Eine neue Bibel
Der alte Wunsch jüdischer Kreise schickt sich soeben an, in Erfüllung zu gehen. Es erscheint eine Bibel von einem jüdischen Künstler und nach jüdischen Motiven illustriert. Kein Geringerer als E. M. Lilien hat
sich der Aufgabe unterzogen und uns zu den Werken jüdischen Buchschmucks, die wir seinem Griffel verdanken, ein neues geschenkt, vielleicht nicht mehr ein Werk, sondern das Werk. Es war seit
einiger Zeit bekannt, daß Lilien eine neue illustrierte Bibel schaffen wollte, und man sah mit Spannung den ersten Blättern entgegen. Sie liegen jetzt vor*). Die ersten drei Hefte der neuen Bibel sind erschienen und gestatten uns, uns jetzt schon ein vorläufiges Urteil über die Qualitäten dieses neuesten Werkes unseres zweifellos markantesten Zeichners zu bilden. Wir waren dazu um so mehr in der Lage, als uns durch die Freundlichkeit des Künstlers und das Entgegenkommen des Herausgebers möglich gemacht worden war, auch Einsicht in einige der Blätter zu nehmen, die erst in den demnächst erscheinenden rieften enthalten sein werden.
Ehe Lilien sich an dieses Werk gab, weilte er längere Zeit in Palästina. Die Früchte seines palästinensischen Aufenthaltes leuchten uns aus diesen Blättern entgegen. Nicht, als ob es sich darum handelte, daß „Land und Leute“ nun besonders treffend wiedergegeben seien; sondern es will uns dünken, als ob es dem Künstler darauf angekommen wäre, sich in die örtliche Atmosphäre dieses Buches, des Buches, zu versenken, mit Leib und Seele die Eigentümlichkeiten, die feinen Nuancierungen und Schwingungen des Landes und des Geistes in sich aufzunehmen, die Rahmen und Ursprung dieses Buches gewesen sind. Ist doch Palästina heute noch das Land der Bibel! In seinen Ebenen und Bachläufen, in seinen Schluchten und Berggipfeln, in seinen Höhlen und Wüsten, aber auch in seinen Beduinen und sogar in seinen Juden, den armen gehetzten Juden des Golus, die aus der Verbannung hierher „vertrieben“ worden sind, lebt ja und webt ja noch ein Hauch jener göttlichen Zeit, da Abraham seine Zelte aufstellte und da David die Saiten schlug. Es ist eine der Eigentümlichkeiten der Lilienschen Kunst, daß er die Landschaft, ja sogar die Umrahmung des Bildes in seine Idee hineinbezieht. Wir wissen, welche Bedeutung Lilien der Symbolik beimißt. In seinen letzten Blättern, in einigen der Zeichnungen zu Rosenfelds „Lieder des Ghetto“, ist nicht mehr ein Strich, der nicht im engsten Zusammenhang mit der Idee des Bildes steht. Da gibt es kein zufälliges Ornament, nicht eine Falte des Gewandes, nicht ein Zug der Landschaft, die uns nicht deutlich, vielleicht hin und wieder allzu deutlich, auf den Inhalt der Zeichnung hinweist. Einer solchen künstlerischen Richtung mußten für ein Bibelwerk aus dem Bibelboden reiche Quellen fließen.
Es ist kein Geheimnis, daß der Künstler Lilien mit einer gewissen Begrenzung seiner Phantasie zu kämpfen
hat. Seine Typen waren nicht sehr mannigfaltig, seihe Einfälle nicht eben variabel, die schon berühmten Dornen und der noch berühmtere „Alte Jude“ mit dem bekannten Sehnsuchtsblicke und den segnenden Händen waren uns schon recht vertraut. Mit Genugtuung sehen wir daher, daß diese Zeichnungen auch in bezug auf die Erfindung einen namhaften Fortschritt darstellen. Es sind nicht nur neue Themen, es sind auch neue Physiognomien — und das will vielleicht bei diesem Künstler besonders viel heißen —, es sind neue Arrangements, es sind heue Ornamente und Vignetten. Das Buch bedeutet eine wesentliche Bereicherung unseres jüdischen Formenschatzes.
Allerdings treten uns auch in diesem Buche Bei¬
spiele für ein Bleiben und Verharren auf dem alten
Zustande entgegen . Es sind da einige Zeichnungen ,
die sich auf den ersten Blick fast in nichts unterscheiden
von denen , die wir im „ Juda “ und in den „ Liedern des
Ghetto “ gesehen , haben . Manchmal scheint es , als ob
der Künstler Lilien gewisse Stellungen und Formen
nicht mehr vermeiden könnte . Das soll uns aber nicht
• hindern , mit aufrichtiger Freude die große Entwicklung *
den bedeutsamen künstlerischen Fortschritt zu konsta¬
tieren , die aus diesen Blättern zu uns sprechen . Am
innigsten berührt uns dieses Neue , wo » ‚ es offenbar aus
palästinensischem Geiste geboren ist . Mit Genuß be¬
trachten wir einige Zeichnungen , aus denen das Ringen
des Künstlers mit dem wohl schwierigsten künstlerischen
Problem des heiligen Landes uns offenbar wird , die
Bewältigung des heißen Lichtes auf der weiten trocknen
palästinensischen Ebene . Das will etwas sagen bei .
einer Schwarz – Weiß – Zeichnung . Fast schmerzhaft
grell steht da das pflügende Paar im Felde .
Und zu welcher Größe erwächst Abraham unter dem
wuchtend heißen Himmel über dem schweren Wege ,
da er seinen Sohn Isaak zum Berge Moriah zum Opfer¬
altar führt . Gerade bei diesem Bilde enthüllt sich uns
noch eins der Geheimnisse Lilienscher Kunst : das Monu¬
mentale . Es ist technisch interessant , dem | ~ nach zu
gehen , wie er die Wirkung des Großartigen . erzielt .
. Drei Viertel des Bildes nimmt der weiße , unendlich weiße
Himmel ein . Niedrig und eben hingeworfen die Land¬
schaft , und doch so deutlich , daß sie den weißen Pfad
in grellen Gegensatz zu dem weißen Himmel bringt .
» Eine kräftig gezeichnete Palme schließt das Bild rechts
in entschiedenen Strichen ab . Inmitten aber der
Patriarch . Drei breite schwarze Streifen laufen senkrecht
von oben nach unten über das weiße Gewand , fesseln
den Blick unentrinnbar auf den bekümmerten Mann ,
der eben in tiefem Seelenschmerz leise die Hand des
Sohnes an die Lippen zieht , während dieser , in dessen
Zeichnung jeder schwere Ton fehlt , gerade durch
die Leichtigkeit , mit der er hingestellt ist , den Vater
um so bedeutender erscheinen läßt . Wie leuchten die
schwarzen Streifen des Gewandes !
In anderer Hinsicht fielen uns einige Zeichnungen
auf . in denen der Künstler offenbar zu dem Ursprung
seiner künstlerischen Entwicklung zurückkehrt . Das
sind die zarten Gestalten , Männer und Frauen , gewöhn¬
lich ein Paar auf einem Bilde , in zarten Wellenlinien
entworfen , Gestalten , die uns lebhaft an Fidus und
seinen Kreis erinnern . Die ersten Zeichnungen der
„ Jugend u tauchen wieder vor uns auf , in denen Lilien
sich zum erste Male enthüllte . Neu andererseits sind
seine Initialen . Auf diesem Gebiete war uns Lilien
bisher nicht bekannt . Wenn diese Zeichnungen seine
ersten Leistungen dieser Art darstellen , können wir
dem Künstler zu der vollendeten Meisterschaft , mit
der er dieses arg abgegraste Feld beherrscht , unsern
Glückwunsch aussprechen . Wir haben nicht Vieles der
Art gesehen , das besser gewesen wäre .
Es soll nicht Aufgabe dieses kurzen Aufsatzes
sein , sich mit dem Buche insgesamt zu beschäftigen .
Wir wollten nur einige Eindrücke kurz skizzieren , die
das . Studium der . wenigen uns zur Verfügung stehenden
Blätter in uns hervorrief . Es kann uns nicht obliegen ,
uns mit dem Texte zu beschäftigen . Die Übersetzung
weicht von der üblichen bedeutend ab ; sie ist , wie im
Vorworte nachdrücklich betont wird , auf der wissen¬
schaftlichen Übersetzung von D . Ed . Reuß aufgebaut .
Uns mutete sie fremd an , das Warme , Innige , auch
das Erhabene der uns vertrauten Übertragung schien
uns zu fehlen . Aber das soll kein Urteil sein ; das soll
vielmehr einer spätem umfassenden Besprechung
vorbehalten bleiben .
Vom illustrativen Gesichtspunkte aus scheint uns
jedenfalls in dieser Bibelausgabe , soweit wir nach dem
bisher vorliegenden Material urteilen können , das vom
Verlage erstrebte Ziel , eine „ klassische Bibelausgabe “
zu schaffen , erreicht . Julius Berger
( Aus technischen Gründen war es dem Verlage leider nicht
möglich , uns die Klischees derjenigen Zeichnungen zur Verfügung
zu stellen , auf die im vorliegenden Aufsatz Bezug genommen ist . )
* ) Die Bücher der Bibel , herausgegeben von F . Rahlwes , Zeich¬
nungen von E . M . Lilien . Erster Band : Übeilicferung und Gesetz .
Verlag von George Westermann , Braunschweig .
Die Welt (Köln), 12. Jahrg., 27. November 1908, Nr. 47, S. 11-12. Online